Als Inhaber, Rechtsanwalt oder Steuerberater eines Familienunternehmens stößt man immer wieder auf ein neues Regelwerk, an dem zurzeit kaum ein Weg vorbeiführt: Die „Familienverfassung“ (oder auch: Familiencharta, Familienvertrag, Familienkodex).

Gesellschaftsvertrag ist ausreichend?

Bei meinen Nachfolgeberatungen in Familienunternehmen bekomme ich von Gesellschaftern und ihren Beratern oft zu hören, dass ein solches Regelwerk nicht nötig sei – das Unternehmen verfüge schließlich über einen gut ausgearbeiteten Gesellschaftsvertrag.

Nicht nötig? Meine Antwort: Und ob!

Familienverfassung und Gesellschaftsvertrag konkurrieren nicht miteinander, sie ergänzen sich. Während der Gesellschaftsvertrag das Verhältnis zwischen dem Familienunternehmen und seinen Inhabern regelt, manifestiert die Familienverfassung den Umgang der Familienmitglieder untereinander. Und dort, wo beide Regelwerke Schnittmengen aufweisen, stellen sie eine wechselseitige, sich ergänzende Stärkung dar.

Worum geht es in der Familienverfassung?

Im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag wird die Familienverfassung von allen Gesellschaftern des Familienunternehmens aktiv verfasst. Als geschäftsführender Gesellschafter oder Anwalt des Unternehmens mögen Sie sich fragen, warum das denn nötig sei – sind doch gerade die in der Firma nicht tätigen Gesellschafter oft weit vom Unternehmensalltag entfernt und daher schwer einzubinden.

Die Antwort: Gerade deshalb!

Die Verständigung aller Familienmitglieder auf ein gemeinsames Regelwerk sichert die Wirkungs- und Überlebenskraft des Familienunternehmens. Hingegen kann das Nicht-Berücksichtigen der Bedürfnisse der passiven Gesellschafter alte innerfamiliäre Konflikte wieder aufleben lassen.

In einer Familienverfassung werden die Themen erörtert, die aufgrund ihrer emotionalen Brisanz den Frieden innerhalb der Familie und damit die Stabilität des Familienunternehmens gefährden könnten – in der Regel mit externer Unterstützung, um den Prozess zu moderieren und Konflikte zu vermeiden.

Die Familienverfassung ist ein formfreies Dokument, ihrem Regelungsgehalt sind keine Grenzen gesetzt. In der Praxis haben sich folgende Themen herauskristallisiert:

  • Werte und Ziele der Familie und des Unternehmens
  • Ausgestaltung des Geschäftsmodells, z.B. die Ausschüttungspolitik
  • Unternehmensführung und -kontrolle, z.B.:
    • Ausscheiden von Gesellschaftern und Geschäftsführern
    • Nachfolgeregelungen
    • Beiratsregelungen
    • Anteilsübertragungen
  • Sicherung des Zusammenhalts in der Familie, z.B.:
    • Kommunikationsregeln
    • Konfliktmanagement
    • Einführung eines Familientages

Kein Widerspruch zum Gesellschaftsvertrag

Was ist, wenn ein Teil dieser Themen bereits im Gesellschaftervertrag angesprochen werden? Das muss kein Widerspruch sein. Im Gegenteil!

Der manifestierte Wille aller in der Familienverfassung stärkt auch den gemeinsamen Willen eines Gesellschaftsvertrages. Dessen Regelungen können jederzeit überarbeitet und angepasst werden, sollte sich der Gesellschafterkreis auf eine abweichende Regelung verständigt haben. Das eigene Verfassen einer gemeinsamen Ausrichtung stärkt die Wirksamkeit aller Beteiligten und befähigt sie, in eigenen Worten zu artikulieren, welche Regelungen sich im Gesellschaftsvertrag wiederfinden sollen. Es ist dann Sache der Juristen, diese Regelungen rechtsverbindlich niederzuschreiben.

Beispiel: Bei der Definition der Werte und Ziele im Rahmen der Familienverfassung zeigt sich, dass die Beteiligung am Familienunternehmen für einige passive Gesellschafter auch Teil ihrer Altersabsicherung ist. Dieses Verständnis kann Einfluss auf die künftigen Ausschüttungsregelungen des Unternehmens haben. Findet dieses im Gesellschaftsvertrag und in der Unternehmenspolitik eine – auch für das Unternehmen angemessene – Berücksichtigung, so sichert dies den Gesellschafterfrieden und damit die Unternehmenszukunft.

Wirkungskraft der moralischen Verpflichtung

Während viele Juristen – verständlicherweise – noch über die Rechtsnatur und rechtliche Verbindlichkeit einer Familienverfassung diskutieren (zuletzt in Der Betrieb, Nr. 22, 01.06.18), lässt sich bereits Positives aus der Praxis berichten: Auch wenn rechtlich nicht verbindlich und vor Gericht nicht durchsetzbar, hat die moralische Verpflichtung der Familienverfassung eine enorm starke Bindungswirkung.

Eine Familienverfassung ist natürlich kein Allheilmittel und kann Rechtsstreitigkeiten innerhalb einer Gesellschafterfamilie nicht gänzlich ausschließen. Doch sie führt nachweislich zu einer deutlichen Reduzierung der innerfamiliären Gerichtsprozesse. Das sollte Anreiz genug sein, sich als Unternehmerfamilie auf ein solches Regelwerk zu verständigen. Gerne unterstütze ich Sie bei diesem Prozess!